Mehr Ganztagsschulen in Baden-Württemberg – endlich! Nicht mehr die Kombination aus Unterricht am Morgen und Betreuung am Nachmittag sondern ein sinnvoll rhythmisierter Stundenplan mit großzügigem Mittagsband statt kurzer Pause und mit Entspannungsphasen, Bewegungs- und Kreativitätsangeboten zwischen den klassischen Unterrichtsphasen, um die Konzentrationsfähigkeit der Grundschülerinnen und Grundschüler nicht zu überfordern. Das ganze noch in zwei Formen, in denen wieder jeweils vier Ausgestaltungsmöglichkeiten bestehen. Pädagogisch sicher sinnvoll. Und auch ein flexibles Angebot für alle Bedürfnisse, könnte man meinen.
Also alles paletti? Weit gefehlt!
Zur Erinnerung: Bisher findet an den meisten Grundschulen der Unterricht am Vormittag statt. Vor und nach dem Unterricht besteht die Möglichkeit, eine Hortbetreuung oder das Angebot der “verlässlichen Grundschule” zu nutzen. Die Angebote der Schulkindbetreuung bei den Kommunen und bei freien Trägern – freiwillige Angebote, auf die es keinen Rechtsanspruch gibt – reichen aufgrund der hohen Nachfrage leider nicht an jedem Schulstandort für alle Kinder aus, aber dort, wo sie stattfinden, sind sie relativ flexibel, bieten Betreuung vor dem Unterricht und bis in den frühen Nachmittag hinein, z.B. für Eltern, die nur in Teilzeit arbeiten und die Kinder danach selbst betreuen möchten, oder bis etwa 17 Uhr, je nach Bedarf.
Bisher gab es daneben schon relativ viele Ganztagsschulen, das wird gerne verschwiegen. Ihr Anteil ist in den Jahren vor dem Regierungswechsel in Baden-Württemberg auch etwa so schnell gestiegen wie er seit dem Regierungswechsel weiter steigt. Sei’s drum… Diese Ganztagsschulen waren alle “Modellschulen”, was vor allem dann problematisch wurde, wenn eine Schule neu Ganztagsschule werden wollte. Man konnte nie sicher sein, ob ein Antrag am Ende auch genehmigt wird. Jetzt hat die grün-rote Landesregierung wie angekündigt die Ganztagsgrundschule im Schulgesetz verankert. So weit, so gut. Immerhin hat jetzt jede Grundschule das Recht, Ganztagsschule zu werden. Im Gegenzug zieht sich das Land aber aus der Förderung der Schulkindbetreuung zurück.
Und hier beginnen die Probleme:
An den Ganztagsgrundschulen in verbindlicher Form besuchen alle Kinder den rhythmisierten Ganztagsbetrieb. Dieser findet an 3 oder 4 Tagen mit 7 oder 8 Stunden statt. Für diese Kinder benötigen die Eltern, wenn überhaupt, dann noch eine “Randbetreuung” am Morgen vor Unterrichtsbeginn und am späten Nachmittag. Für die Kommunen, die diese Betreuung weiterhin als freiwillige Leistung anbieten können, entstehen überschaubare Kosten, weil es sich um wenige Stunden handelt. Vereine oder Musikschulen, die nicht direkt mit der Schule kooperieren, können von Schülern dieser Schulen aber nur noch am späten Nachmittag oder an den Tagen mit freiem Nachmittag besucht werden.
Daneben gibt es Ganztagsgrundschulen in “Wahlform”. Sie werden dort eingeführt, wo nur ein Teil der Kinder ganztägig die Schule besuchen soll, denn an diesen Schulen kann man wählen, ob die Kinder im Ganztagsbetrieb oder im klassischen Halbtagsbetrieb beschult werden sollen. Wählen Eltern für ihre Kinder den Ganztagsbetrieb, löst dies genauso eine Schulpflicht am Nachmittag aus wie an den Ganztagsgrundschulen in verbindlicher Form. Es wird also auch hier nur noch eine “Randbetreuung” benötigt und der Besuch von Angeboten außerhalb der Schule beschränkt sich auf die freien Nachmittage und die späten Nachmittagsstunden.
Wählen Eltern für ihr Kind an einer Ganztagsgrundschule in Wahlform hingegen den Halbtagsbetrieb, sind sie hier deutlich flexibler. Außerschulische Angebote von Sportvereinen, Musikschulen oder Kirchen können beliebig wahrgenommen werden und Eltern, die – auch neben dem Beruf – möglichst viel Zeit mit ihren Kindern verbringen möchten, können dies so tun, wie es ihren persönlichen, familiären und beruflichen Bedürfnissen entspricht.
Theoretisch wäre es auch hier möglich, eine ergänzende Schulkindbetreuung anzubieten – vor dem Unterricht, an den frühen Nachmittagsstunden oder auch bis in den Abend hinein. Im Gegensatz zum Ganztagsbetrieb würde dadurch nämlich keine Schulpflicht am Nachmittag ausgelöst und die Kinder könnten an einzelnen Nachmittagen zur Wahrnehmung von Angeboten außerhalb der Schule oder auch spontan an einzelnen Tagen früher abgeholt werden. Somit wäre das flexible und bisher an den meisten Schulstandorten eingeführte Modell der Schulkindbetreuung auch an Grundschulstandorten mit Ganztagsmodell in Wahlform möglich. Allerdings würden die Kosten für die Kommunen hier gegenüber dem Status quo steigen, da diese Betreuungsangebote künftig nicht mehr vom Land gefördert würden.
Für mich als Bildungspolitikerin stellen sich hier zwei Fragen: Was wünschen sich Eltern? Und was ist einer Kommune die Familienfreundlichkeit wert?
In Deutschland gibt es traditionell Halbtagsschulen. Und es gibt – im Gegensatz zu vielen Ländern mit Ganztagsschulen – ein gewachsenes, sehr vielfältiges Angebot von Vereinen, Musikschulen und Kirchen, das am Nachmittag von vielen Kindern und Jugendlichen genutzt wird und aus dem ein im internationalen Vergleich sehr hoher Anteil an ehrenamtlichem Engagement sowohl bei Jugendlichen als auch später bei Erwachsenen entsteht. Das ist eine andere Tradition als in vielen anderen Ländern und sie darf aus meiner Sicht nicht leichtfertig aufs Spiel gesetzt werden.
Nach meiner Erfahrung aus zahlreichen Gesprächen mit Eltern und Elternvertretern erwarten diese vor allem auch aufgrund der hervorragenden Jugendarbeit von Verbänden und Vereinen ein gewisses Maß an Flexibilität an den Nachmittagen. Auch die Arbeitszeiten von Eltern sind unterschiedlich. Selbst wer nur in Teilzeit arbeitet benötigt für seine Kinder oft Betreuung über die klassischen Unterrichtszeiten am Vormittag hinaus – aber eben nicht unbedingt in dem hohen Ausmaß, das die Ganztagsgrundschule am Wohnort bietet – oder an anderen Tagen, wenn z.B. nur an wenigen Nachmittagen gearbeitet wird.
Die Kommunen stehen jetzt vor der Wahl: Wollen sie an Grundschulstandorten, die sich für die Wahlform entscheiden, eine flexible Betreuung weiter anbieten? Wie sieht es mit der verpflichtenden Form aus? Ist es sinnvoll, diese einzuführen, wenn im Umfeld keine Schule ist, die einen Halbtagsbetrieb anbietet?
Artikel 15 der Landesverfassung von Baden-Württemberg regelt in Absatz 3: “Das natürliche Recht der Eltern, die Erziehung und Bildung ihrer Kinder mitzubestimmen, muß bei der Gestaltung des Erziehungs- und Schulwesens berücksichtigt werden.” Die Ganztagsschule ist de jure nicht verpflichtend – de facto kann sie es aber werden, wenn ihre Einführung selbst in der Wahlform dazu führt, dass sie – im Gegensatz zur heutigen Situation mit Verlässlicher Grundschule und Hort – für Eltern die einzige Möglichkeit bietet, einer Berufstätigkeit nachzugehen.
Die Kommunen müssen sich gut überlegen, wie viel ihnen Familienfreundlichkeit wert ist, und ob sie nicht ergänzend zur Ganztagsschule auch weiterhin auf die flexiblen Angebote der Schulkindbetreuung setzen – auch ohne die Unterstützung des Landes.
Anmerkung:
Wie dem städtischen Terminkalender zu entnehmen ist, wird Frau Bürgermeisterin Dr. Freundlieb am kommenden Mittwoch, 13. Mai in einem Pressegespräch ihr „Rahmenkonzept – Ausbau der Mannheimer Grundschulen zu Ganztagsschulen“ der Öffentlichkeit vorstellen. Das lässt vermuten, dass die entsprechende Beschlussvorlage den Stadträten am gleichen Tag für die Sitzung des Bildungsausschusses am 20. Mai zugehen wird. Noch nicht einmal die Eckpunkte dieses bildungspolitisch zentralen Themas wurden bisher mit den Fraktionen beraten, so dass wir gespannt sein dürfen, welcher Vorschlag uns unterbreitet werden wird.